Für ihren ersten Roman „Vuchelbeerbaamland“ (s. unsere zeit  vom 19. Dezember 2008). bekam die Autorin in Düsseldorf den Literatur-Förderpreis. Marie, die rothaarige Hauptgestalt, durchlebt auch im zweiten Roman zahlreiche Konflikte, auf die der Titel Fatzvogel hinweist: Der barocke Begriff Fatzvogel meint Spaßvögel und Spötter, wird aber auch abwertend für Schauspieler gebraucht. Marie muss sich, weil sie Schauspielerin werden will, von ihrer Verwandtschaft, der Kunst und Kultur fremd sind, anhören, sie studiere „Faxen“; sie wehrt sich spöttisch distanziert gegen Angriffe und Ungerechtigkeiten.

Der Roman spielt in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre der DDR bis 1990; Marie begibt sich auf die Suche nach einem Beruf. Die christlichen Eltern wollen, dass sie Theologie studiert, doch sie möchte nach dem Abitur Gemeindehelferin werden und im Alltag des Landes, dessen Schwierigkeiten sie ebenso erlebt wie sie sich gegen verleumdende Sicht darauf wehrt, „mittendrin sein“. Maries erkennt „Meinung und Handlung des Staates“, in dem sie lebt, und wird dafür harsch von ihren Eltern abgelehnt, die Beispiel dafür sind, wie unter dem christlichen Deckmantel, in dem braune Flecken der Vergangenheit erhalten geblieben sind, sich der Sozialismus gut bekämpfen lässt.

Die Alltäglichkeit der DDR der achtziger Jahre wird nicht beschönigt – Stasi und Ausreise haben ihren Platz -, aber auch nicht verzerrt: Marie sieht ihr Land nicht nur trist und grau, wie es vom westlichen Flitterglanz geblendete Spießer tun; sie erscheint konfliktbewusst, fordernd und sieht ihr Land bunter und freizügiger als gemeinhin dargestellt, ohne die Schattenseiten zu verdrängen. Derartige Aufgaben sind nicht zu beschönigen, sondern diszipliniert zu erfüllen. Marie ist eine junge Frau, die anders sein möchte als junge Frauen gemeinhin sind, die aber dennoch soziale Verantwortung empfindet. Aber nur einige Menschen, die sie dabei trifft, teilen diese Selbstlosigkeit: Die meisten verfolgen persönliche Interessen, die sie rücksichtslos durchsetzen.

Marie lebt in einem doppelten Konflikt: Ihre Liebe gehört der Kunst, besonders dem Theater, mit dem sie sich schon als Kind eingelassen hat und das sie gern zu ihrem Beruf machen würde. Und sie leidet unter einem Familiengeheimnis: Ihr in den Wirren der Nachkriegszeit nach Kanada entkommenen Großvater, der von der Familie verehrt und verteidigt wird, wurde Anfang der achtziger Jahre als SS-Verbrecher nach Deutschland ausgeliefert, weil er 1941 in Kaunas Juden ermordet hatte. Der Leser kennt den Vorgang aus dem ersten Roman; nach wie vor aber wird diese Vergangenheit in der Familie verdrängt. Der neue Roman schließt an den ersten inhaltlich und zeitlich an. Es bleibt aber nicht bei der Gegenwart: Schreckliche Szenen traumatisierter Menschen lassen Bombennächte des Zweiten Weltkriegs gegenwärtig werden; gespenstische Träume Maries werden von der zerstörerischen Verdrängung der Familie gespeist.

Der Roman ist auf den ersten Blick nüchtern, schnörkellos, sprachlich hart geschrieben. Dabei klingt zurückhaltend Sächsisches („mein Gutster“) und Vogtländisches an. Auf den zweiten Blick geben Kontraste dem Text eine ästhetische Dimension, die der Menschenwürde verschrieben ist: Schon das Motto – Hölderlins berühmtes und oft zitiertes Wort „So komm! Dass wir das Offene schauen.“ – verkündet, dass es neben dem nüchternen, manchmal erschütternden Alltag um Bildung, Kunst und Schönheit geht, wovon Marie von Kindheit an von fasziniert ist. Damit vervollkommnet die Autorin ihr im ersten Roman geübtes Verfahren, die Beschreibung eines nüchternen und oft ernüchternden Alltags nicht ins Klischee des Bedrückenden abrutschen zu lassen, sondern der Arbeit, die oft nur noch unangenehme Pflichten der Pflege und Betreuung bringt, Sinn und Erfüllung zu geben. Der wird ihr nicht durch ihre christliche Herkunft bewusst, im Gegenteil: Diese geschieht bigott dogmatisch und führt zur Verkümmerung menschlicher Möglichkeiten.

Den Sinn von Arbeit erfährt sie durch die Kunst; die Palette der Bezüge ist vielschichtig und reicht von Thomas Manns Doktor Faustus bis zu Brecht, Heinrich Mann, immer wieder Hölderlin. Hart werden Kontraste gebildet zwischen einer Wirklichkeit, deren fäkalische Vorgänge auch sprachlich nicht übergangen werden, und Hölderlin-Zitaten aus den Hymnen und dem Roman Hyperion. Diese Kontraste sind bis zum schmerzlichen Erschrecken gespannt, aber halten der Belastung stand. Sie kommen gemeinsam als Bild von einer täglich zu bewältigenden Welt beim Leser an.

Das Autobiografische im Roman ist zu ahnen; manches bleibt nahe am Tatsächlichen, manches, wie der Abgang von der Schauspielschule, unscharf: Bildungs- und Kunsterlebnisse erscheinen manchmal wie eine Berichterstattung im Tagebuch an, Erlebnisse werden nicht hinterfragt wie das Bekenntnis eines Kollegen, wegen eines Ladendiebstahls zur Stasi verpflichtet worden zu sein. Die Schwächen des Romans sind die Folgen seiner Stärken: Nichts, was sie bewegte, wollte die Autorin unberücksichtigt lassen.

Auch der zweite Band über das Leben der rothaarigen Marie beschreibt einen an Konflikten und Widersprüchen reichen Alltag, der immer authentisch bleibt und seismografisch dokumentiert, wie die kritische Bewegung der DDR-Bevölkerung 1989 umschlug, beeinflusst wurde und sich die Akzente änderten, „der Mob nahm überhand“. Der Charakter der sogenannten „friedlichen Revolution“ erscheint in einem anderen Licht als in Uwe Tellkamps Roman Der Turm. Dafür, dass er die Wirklichkeit der DDR delegitimierte, sogar denunzierte, wurde er vom bürgerlichen Feuilleton gelobt und ausgezeichnet. Man wird sehen, ob dieses Feuilleton in der Lage ist, die Wahrheit der Reglindis Rauca, die ein Gegenbild zu Tellkamps Roman schafft, zu erkennen.

Rauca hat zudem den Finger am Puls der Gegenwart: Sie beschreibt, wie die ein faschistischer Massenmörder in seiner Familie im vogtländischen Plauen zur Handlungszeit des Romans geachtet wird, alle politischen Strukturen überdauernd, nur wenige Jahre später – 2013 – machen einige Kilometer weiter im erzgebirgischen Schneeberg sich Geistesverwandte auf, um unter dem harmlosen Namen des „Lichtel-Laufs“ faschistische Fackelaufmärsche zu beleben, um gegen Asylbewerber zu hetzen. Es spricht für Raucas sensibles und kritisches Zeitgefühl, dass sich die Schneeberger Hetzer mühelos als Enkel des Großvaters erkennen lassen. Auch gegen sie schreibt dieser Roman an.

Prof. Rüdiger Bernhardt, „unsere Zeit“, 20.12.2013