Reglindis Raucas gelungenes Romandebüt „Vuchelbeerbaamland“ erzählt von einer Kindheit zwischen christlichem Elternhaus und realsozialistischem System

„Dass de ja nischt sachst, was wir hier reden. Sonst kaaste was erleem.“ Diesen Satz hört Marie mehr als einmal, denn wenn sich der Vater über „rote Stümper“ und „rote Pauker“ ereifert, dann darf das um Himmels willen nicht nach draußen dringen. Aber auch die Parolen und Ansichten, die ihr in der Schule beigebracht werden, sind im christlichen Elternhaus nicht gut gelitten. Dieses Leben in und zwischen zwei Welten, eine Kindheit und Jugend im vogtländischen Plauen in der DDR der 1980er Jahre, beschreibt Reglindis Rauca in ihrem Roman „Vuchelbeerbaamland“. Selbst 1967 in Plauen geboren, hat sie in Dresden eine Ausbildung zur Krankenpflegerin absolviert, an der Hochschule „Ernst Busch“ Schauspiel studiert, war an verschiedenen Theatern engagiert und ist heute Werbetexterin in Düsseldorf. Rauca hat also schon einige Antworten gefunden auf das, was ihrer Heldin Marie noch bevorsteht, für die die „nackten, jungen Ziele wie frierende Bäume im April“ sind. Wo es in ihrem Leben hingehen soll, weiß Marie noch nicht; wohl aber, was alles nicht geht: Rothaarig, mit altmodischen Kleidern und „Bestschülerin“ wird sie von Mitschülern wie Schnauzenmona gehänselt und auch mal getreten. Zur Klassenfahrt fahren wie alle anderen darf sie auch nicht, denn die Eltern fürchten, sie könne indoktriniert werden. So eckt sie immer wieder an, stößt an Grenzen, die sie nicht versteht. Das schildert Rauca sehr genau und lässt Marie zunehmend zorniger werden.

Im Hintergrund findet sich immer das trotzdem als liebevoll und außergewöhnlich empfundene Elternhaus mit dem geliebten Vater, der Marie als einzige Person in seine Dachkammer lässt – wenn er nicht gerade vor Zorn rot anläuft. Diese Gegensätze lässt die Autorin immer wieder aufeinanderprallen, erzählt dabei aber weniger chronologisch, sondern in Szenen, Erinnerungen, Episoden und Träumen, zum Beispiel von der Einreise in die „Tschee SSR“ oder durch imaginäre Zwiegespräche mit dem verstorbenen kleinen Bruder. Das wird ausführlich und geduldig und immer in einem besonderen Ton geschildert, mal märchenhaft-kindlich, mal schnoddrig-trotzig. In die verschiedenen Episoden werden Kinderlieder und Gebete gestreut.

Mit „Fisches Nachtgesang“ aber verschlägt es der Erzählerin die Sprache. Denn im Laufe des Romans stellt sich heraus, dass der von ferne geliebte „Grandyddy“, republikflüchtig in Kanada lebend, ein Nazi-Verbrecher war. Und Marie erlebt die Vertuschung und Verharmlosung durch die eigenen Eltern, die nur Angst vor der Schande für den eigenen Namen haben.
Doch Marie will sich der Familie und ihrer Last stellen, das geliebte Theater und die Zahl seiner Sitzplätze dienen ihr als Hilfe, sich die ungeheure Zahl von 10.000 Toten annähernd vorzustellen. Und da wird Raucas Roman auch zu einem Stück Zeitgeschichte.

Ute Grundmann, Kunststoff. Kulturmagazin für Mitteldeutschland, April 2008