Großmutter Gretl wohnt im Parterre, in einem großen, alten Mietshaus aus den Zwanzigern, in Preißelpöhl, einem Viertel am anderen Ende der Stadt.
Es ist so, wie es immer war. Das Zimmer ist voll von Menschen, Stimmengewirr dringt aus dem Raum. Der Obermann, ein Sohn von Otto, redet laut und dröhnend, dazwischen gellt die Stimme seiner Frau. Im Wohnzimmer herrscht dicke Luft, sie rauchen, seit sie da sind. Sie sind schon länger da. Sie streiten sich. Der Obermann ist groß und kräftig wie ein Bär, mit vollem schwarzem Haar und Bart. Auch Frau Obermann ist groß, beeindruckend gebaut, mit einem energischen Gesicht.

Mutter und Vater grüßen freundlich und sehen sich die Geschenke an. Otto, Gretls zweiter Mann, sitzt in seinem Ohrensessel und rührt sich nicht. »Guten Tag!«, ruft Marie und streckt ihm die Rechte hin. Er sieht sie an.
»Musst lauter reden«, sagt Großmutter Gretl, »er hört so schlecht.«
»Tag, Otto!«, brüllt sie. »Wie geht’s?«
»Tag, Tag«, brüllt er zurück, »auch wieder da?« Er schüttelt ihre Hand und lächelt. Es ist selten, dass Otto lächelt.

Lutz kommt herein, Obermanns Sohn, ein halbwüchsiger, schlacksiger Junge mit störrischen Strubbelhaaren und einem frechen, rotzig aufgeworfenen Mund, mit dem er aussieht, als ob er gleich verächtlich spucken wollte. Ein strohblondes Lama. Seine Schwester Sonja sitzt auf dem Sofa, ihre Stupsnase in ein Buch versenkt, die langen, braunen Haare mit einer silbernen Spange hochgesteckt. Marie freut sich, sie sehen sich seit Jahren zu Gretls Geburtstag, immer, wenn’s stickig wurde, sind sie raus und ein paar Runden um die Gründerzeithäuser rum.

Großmutter Gretl reicht Gläser auf einem kleinen, antiken Silbertablett, das mit einer Borte verziert ist, wie Deckchen mit einem Häkelrand. Sie serviert Wodka und Braunen für die Männer, Goldbrandt, »der gute aus dem ›Delikat‹«, betont sie, »Fress-Ex«, wirft Marie spöttisch ein. Dann Eierlikör in Mini-Waffelbechern mit Schokolade innen für die Damen. Dann Vogelbeerlikör, was ganz Besonderes. »Wo hast du den denn her?«, fragt Sonja. Marie nippt, das Zeug schmeckt lecker, hat einen herbfruchtigen Geschmack.
»Aufs Vuchelbeerbaamland!«, ruft sie und reckt die Linke mit dem Glas hoch.
»Aufs Vuchelbeerbaamland!«, brüllen sie im Chor.
»Was ist das denn?«, fragt Sonja.
»Das ist das Land des Vuchelbeerbaams, wo Bäume mit schwarzen Stämmen rote Früchte tragen, wo sie aus ihnen Likör und Marmeladen machen, wo Vugel zwitschern und wo gevugelt wird, bis die Beere kracht.«
»Du hast nen Vugel«, lacht Obermann, der auf dem Sofa thront. Sein mächtiger Rücken verschmilzt zufrieden mit der Lehne, seine Arme liegen raumgreifend nach beiden Seiten ausgestreckt, die kräftigen Schenkel ruhen breit geöffnet.
»Wird schon so sein«, lacht Marie zurück.
»Was machst du denn so«, will er wissen.
»Ich mache erst mal meine Ausbildung als Krankenpflegerin zu Ende.«
»Krankenpflegerin? Ich denk, du hast Abitur. Warum studierst du nicht?«, brüllt er durch den Raum.
»Ich mache erst mal die Ausbildung zu Ende, damit ich einen Berufsabschluss habe. Im Januar bewerbe ich mich für ein Studium.«
»Wo denn«, will er wissen.
»An der Hochschule für Schauspielkunst Berlin.«
»Wo?«, ruft er entgeistert.
»In Berlin.«
Er starrt vor sich hin. »Wirste Hauptstädterin. Kannste mal Bananen und Apfelsinen mitbringen, denen tragen sie’s ja hin.« – »Hm«, macht Marie.
»Was studiert man denn da?«, fragt er, nachdem er den Hauptstadtschock überwunden hat.
»Schauspiel, Puppenspiel und Regie.«
»Puppenspiel? Das kann man studieren? Mit Puppen hat meine Sonja gespielt, als sie klein war.« Er lacht und haut sich klatschend auf die Schenkel.
»Es gibt Puppentheater«, sagt Marie. »Noch nix von gehört? Plauen hat keins, dafür haben wir ein Stadttheater. Ich weiß nicht, ob Karl-Marx-Stadt …«
»Puppentheater«, lacht er, »und das willst du studieren?«
»Ich will Schauspiel studieren«, sagt Marie trocken und beginnt innerlich zu kochen, auf kleiner Flamme.
»Schauspiel«, murmelt er, »Fatzvogel. Spaßmacher. Die studiert Faxen.«
»Der Theaterberuf ist sehr angesehen.«
»Angesehen. Von wem, möcht ich mal wissen.«
»Manche Schauspieler sind beim Film. Im Fernsehen. Besser?«
»Aha«, sagt er. »Willste Fernsehliebling werden. Kommste in der Abendsendung.«
»Nein, ich komme nicht in der Abendsendung. Ich will zum Theater.«
»Studierste Hungerleider«, murmelt er.
»Die Zeiten haben sich geändert. Schauspieler werden gut bezahlt, das nennt man Gage, sie gelten etwas, haben ein sicheres Engagement.«
»Für was bezahlt, möcht ich mal wissen.« Er streckt wohlig die Beine von sich und streicht genüsslich über seinen Bauch.
»Für ihre Arbeit, auf der Bühne«, sagt Marie.
»Das ist doch keine Arbeit, Mädel. Die wissen nicht mal, was Arbeit ist. Die saufen die ganze Nacht durch und stehen mittags auf. Und dafür kriegen sie ’ne dicke Gage.« Er grinst.
»Die haben morgens und abends je vier Stunden Probe, und wenn sie abends keine Probe haben, haben sie Vorstellung.«
»Quatsch, das ist rausgeschmissenes Geld«, dröhnt er. »Mal ’ne Operette, das lass ich mir gefallen. Was fürs Herz. Aber den Mist, den du studieren willst, will keiner sehn. Dafür gibt’s den Tatort von der ARD und unsern Polizeiruf, Dallas und Denverclan.«
»Es kann ja sein, dass dich das nicht interessiert. Andere interessiert’s.«
»Fatzvögel und Hungerleider. Warum studierst du nichts, was sich gehört? Was Richtiges?«, will er wissen.
»Was gehört sich denn«, fragt Marie, inzwischen ziemlich angefressen.
»Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, Ingenieur, das gehört sich. Das sind anständige Berufe, vor denen man Achtung hat.«
»Vor Schauspielern hast du keine Achtung?«
»Das sind Spinner«, sagt er gelassen. »Du studierst Spinner.« Er macht eine Pause. Das Wort scheint ihn zu freuen. »Spinner. Spinner.«
»Reg dich ab, ich habe noch nicht mal vorgespielt.«
»Vorgespielt. Die Spinner spielen vor. Vor wem denn? Anderen Spinnern?«
»Schauspiel wollen viele studieren, nur wenige schaffen es. Für Schauspiel braucht man eine besondere Begabung. Da zählt auch nicht das Parteibuch oder die Arbeiterherkunft der Eltern, hoffe ich jedenfalls.«
»Mein Mädel lernt Kindergärtnerin, die ist vernünftig. Gott sei Dank.«
»Meine Eltern sind auch nicht begeistert«, murmelt Marie, hochrot vor Wut.
»So«, sagt er. »Dann höre mal auf deine Eltern.«
»Willste noch’n Schnaps?«
»Och ja.« Er hält sein Glas hin. »Prost Fatzvogel. Viel Glück. Und grüß die Spinner.«
»Wollt ihr ’nen Witz hören?«, fragt sie, um abzulenken.
»Schieß los«, schreit er.
»Wann ist ein DDR-Bürger volltrunken? Wenn er im Rinnstein liegt, die Gitterstäbe eines Gullys umfasst und lallt: ›Genosse Mielke, ich habe doch gar nichts gemacht.‹« Prost!, denkt sie und kippt.

© Reglindis Rauca, Roman „Fatzvogel“