Grüne Tomate
Manchmal kommt ein Paket aus dem Westen an, Großmutter Gretls Verbindungen reichen weit. Jedes Paket duftet intensiv nach Seife, feiner Herrenschokolade und deutschem Kaffee. Der Kaffee duftet nach der Seife, die Seife nach dem Kaffee. Alles in dem Paket nimmt diesen Geruch von Seife und Kaffee an, die Mischung ist so intensiv, dass sie durch die sicher verpackten Wände nach außen dringt. …
Das Paket steht auf dem großen, schweren Eichentisch, auf der weißen Tischdecke blühen frische Wiesenblumen, Akelei, Steinkraut und Himmelschlüssel, in Kreuzstickerei, mit kleinen Stichen aus roter und gelber Seide sauber umrandet.
Dem großen gelben Karton mit dem blauen Stempel entströmt ein intensiver Duft von Seifenkaffee. »Auspacken, auspacken!«, rufen Marie und Klausi.
Vater legt im musikalischen Salon leise Jazz aus den 50ern auf, macht es sich im Sessel bequem, öffnet Apfelsinen, die Schale ringelt sich in dünnen Spiralen am schwarzen Messer auf seine Beine in der grauen Haushose hinunter, der Duft zieht durch den ganzen Raum. Gerda verteilt Schweizer Schokolade. Eine Karte teilt Neuigkeiten mit: »… wir sind alle gesund, nur Gabi leider nicht.« – »Schling nicht so, Klausi!« – »… wir wünschen Dir, liebe Brigitte, lieber Manfred …«
»Wie schön!«, schreit Marie. Ein quietschgelber knielanger Faltenrock, sicher für Gerda. Dazu bunte Tücher mit Glockenblumen und gelben Datteln.
»Ach, sieh doch!«
Drei große Männerhosen aus blauem und braunem Cord. Marie springt durch den Salon. Wem passen die? Mutter sieht sich hilfesuchend um. Niemandem.
»Und hier, eine Bluse, himmelblau, mit Gummizug und violetten Veilchen am Bund.«
»Kann ich die Bluse …?« Gerda, wieder für Gerda.
»Wo kommen die Leute eigentlich her, die das schicken?«
»Aus dem Schwabenland. Da, wo das Schwarzwaldmädel singt. – Ach, Manfred, spiel doch die schöne Platte mit
dem Schwarzwaldmädel!« Mutter bittet, Vater hantiert im musikalischen Salon. Jetzt wird‘s gemütlich.
»Mädle aus dem schwarzen Wald, ihr süßen, kleinen Schätzle, Schmeichelkätzle, gib ein Schmätzle, sei doch nicht so kalt …« Mutter wippt in den Hüften und summt leise mit. »Mädle aus dem schwarzen Wald, die sind nicht
leicht zu habe! …« Mühelos erreicht sie die höchsten Höhen.
Ein Tremolo, ein Wippen.
Vater ergibt sich ohne Murren dem Hausfrieden.
»… Nur ein Schwabe hat die Gabe, stiehlt ins Herz sich bald.«
So etwas trägt man also im Schwabenland. Zwei große Jungs und eine Tochter in der Familie. Die Tochter misst offensichtlich 2,10 m, die Jungs 2,30 m. »Haben die nichts für mich? Nicht mal einen bunten Pulli? Und das … was ist das?«
Gespannt wartet Marie. Ein grünes Hemd? Eine Bluse?
Mutter nimmt es heraus.
»Was ist das?«
»E’ Dirndl!«, ruft Mutter. Sie verharrt für Sekunden regungslos mit hoch erhobenen Armen. »Das ist doch …« Sie zieht an etwas Rosafarbenem. »Mit Schürze!«, jauchzt sie entzückt. »Ach, sind das gute Leut. Sind das liebe Leut. Ein echt bayrisches Dirndl. Das ist was für mei Mariele!«
Marie will fluchtartig den Salon verlassen. Muss Mathe machen. Russisch! Vokabeln lernen, völlig vergessen!
»Das probierst du gleich mal an. Ist das schön! Dass es so etwas noch gibt!« Mutter hat Tränen in den Augen, schwenkt und dreht glücklich das grasgrüne Ding hin und her.
Klausi hüpft auf der Couch. »Scho-ko-kek-sä! Scho-kokek-sä!«
Gerda blickt skeptisch auf den gelben Faltenrock. Sie erhält noch einen langen, beigefarbenen Mantel mit weichem Gürtel. Mit Mänteln scheinen die’s zu haben. Mäntel, riesige Männerhosen und Dirndl. Vielleicht tragen sie so etwas zum Holzhacken im schwarzen Wald.
»Mutter, das ist viel zu klein. Das ist ein Kinderkleid, ich bin fast dreizehn!«
Es hilft nichts, Marie muss das Dirndl anprobieren.
Das habe ich davon, dass ich immer so wählerisch bin und nichts runterkriege. Von jetzt an werde ich fressen wie ein Vieh. »Warum schicken die nicht mal was Modernes, verwaschene Bluejeans zum Beispiel.«
Vater schnauft durch die Nasenlöcher. »Jeans und getönte Sonnenbrille, was? Wie diese 68er-Schlampen.«
»Das Grün beißt sich mit meinen roten Haaren.«
»Putz dich, Mädel, und stolzier‘ froh durch Wald und Feld …«, trällert es aus dem musikalischen Salon.
Der Spiegel ist gnadenlos, spitz ragen die Schulterknochen neben den grünen Trägern heraus.
»Bald führt dich ein Kavalier in die Märchenwelt.« Mutter bindet sorgsam die rosa Schürze um, macht eine große Schleife im Rücken. »Passt wie angegossen!« Sie dreht Marie zur Seite, vor und zurück. Sehr zufrieden.
»Der Rock ist zu lang.«
»Bis unters Knie, grad recht!«
»Hier, wie sieht das denn aus, kann man ja bis in die Lunge gucken.«
»Du trägst eine schöne helle Bluse darunter und weiße Strümpf, ich hol gleich welche.«
Marie erstarrt, die Schokolade klebt pappig in der Luftröhre.
»Willst du mich zum Affen machen? Heute sind Mini und Jeans in!«
»Sei nicht so undankbar. Sei froh, dass du was umsonst bekommst. Bist zwölf, was willst du mit Mini!«
»Fast dreizehn!«
»Hab erst einmal Geld, was glaubste, was das alles im Laden kostet.«
Andere Mütter arbeiten, halbe Tage wenigstens und ich müsste nicht immer ins Badewasser meiner Schwester, denkt Marie. »Mutter, das geht wirklich nicht. Es ist unmöglich.«
»Kommt mal alle her und seht unser Mariele an!«
Stumm und unglücklich steht Marie vor der Familie.
Sag was, Vater, sag, dass es nicht geht, das man das nicht machen kann, dass das altmodisch ist, lächerlich, unmöglich,
du bist doch der Bestimmer, das Familienoberhaupt, der Alleswisser, protestiere, liebe ältere Schwester, klein Klausi, nimm die große Schneiderschere, schnipp schnapp, oder die Fingernägel oder die Zähne und zerreiß es, mach es kaputt wie meine Puppe Lisa, da hab ich auch nur noch Fetzen gefunden. Fangt laut im Chor an zu lachen oder zu beten und schmeißt das Ding ins Feuer.
Gerda guckt mit offenem Mund.
Vater spricht. »Nun, das ist schön. Ein schönes Kleid.
Sehr nett.«
»Nicht wahr? Nicht wahr? Da hörst de es. Da hörst de es.«
Marie ist entsetzt. »Das kann nicht euer Ernst sein, zu Hause, zum Spielen, als Faschingskostüm, in einer Märchen-Oper, aber nicht in der Öffentlichkeit. Nicht einmal zum Bäcker gehe ich so. Ich werde das nicht in der Schule tragen, Mutter, die gehen alle in Jeans.«
»Du bist ein Mädchen, kein Junge. Trägst Dirndl und Schürze.«
»Sie lachen mich aus!«, ruft Marie bestürzt.
»Wer da lacht, das möcht ich mal erleben. Was sind denn das für Kinner, die kennen wohl nichts Anständiges.«
Herrgott, lass einen Stein vom Himmel fallen und erschlage diese Frau.
»Die Carolin Reiber hat auch eh Dirndl, trägt’s sogar im Fernsehen. Keener lacht. Nimm dir an der e’ Beispiel.«
Textauszug aus
Reglindis Rauca: Vuchelbeerbaamland