Buchhandlung „7 Säulen“: Reglindis Rauca liest aus ihrem Roman „Vuchelbeerbaamland“

Das erste Abendmahl bleibt eine Zwischenmahlzeit zwischen erdfrommem Elternhaus und sozialistischer Schule. Nach 207 Seiten ist Marie 16 Jahre alt. Sie hat rote Haare.

Reglindis Rauca stellte am Mittwoch in der Buchhandlung „7 Säulen“ ihren im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Debütroman „Vuchelbeerbaamland“ vor. Wohl auch als Generalprobe für die Leipziger Buchmesse. Draußen stürmt es und drinnen weht Marie durch ihre Geschichte. „Vuchelbeerbaamland“ ist keine beschauliche Mundarterzählung aus dem idyllischen Vogtland, sondern ein gewohnt untypischer Weg eines Mädchens durch Kindheit und Jugend, verortet in Plauen, exemplarisch für irgendwo und überall im Osten Mitte der 70er, Anfang der 80er Jahre.

Die Schauspielerin und Werbetexterin zeichnet aus dem Handgelenk Erinnerungsbilder und koloriert ihre Kindheit mittels dichterischer Freiheit. Zwischen frommer Elternbastion und orthodoxer Schulimmobilie wird Marie beweglich. Sie muss beweglich sein, weil die Natur sie zeichnete und die Mode von heute noch nicht Mode war: „Rote Haar und Sommersprossen, heute wirst du abgeschossen“.

Ein Strang der entspannt aneinander gereihten Sequenzen handelt die Unbarmherzigkeit von Kindern ab, lauter kleine gruppendynamische Grausamkeiten. Die große Not der kleinen Marie wird für das Ende des Buches aufgespart. Ihr Großvater lebt in Kanada. Da kann er hinter der Wohnungstür zum Phantom der Freiheit mutieren, bevor öffentlich wird, wer er ist, ein Kriegsverbrecher, ein Massenmörder. Dennoch spielt Großvater eine Nebenrolle und weckt absehbare Reflexe: Die Eltern verdrängen. Marie verzweifelt. Und die Kirche schnappt zu.

Während Marie in der Schule ziemlich offen diskutiert, gerät die Junge Gemeinde recht evangelikal, recht arglos erweckt. Warum sollen auch immer die Bonzen borniert und die Diakone eigenlebig gehandelt werden? Die Kirche ist gut für manch geistreiches Bonmot und für das Klischee, wie der leidige Kauf einer Lizenz-Schallplatte. Aber Marie schüttelt die verfänglichen Raster der vorgegebenen zweiseitigen Verhältnisse immer wieder ab.

Eine liebevoll engstirnige Familie behaust die magere Heldin. Vater arbeitet und antwortet. Mutter kocht, kramt und kämmt unbeholfen den Generationskonflikt durch. Manchmal spricht sie Dialekt. Mutter ist sesshaft zwischen Küche und Kirche. Wirklich bewegt ist Marie, wenn sie sich völlig zurückzieht, in ihre Gedanken, ihre Träume, ihren Wunsch, vom Balkon zu springen. Da wird die lässige fließende Sprache der Werbetexterin rasant und geht eine glaubhafte Liaison mit Versen von Christian Morgenstern ein. Da wird die Ostgeschichte zu einer Geschichte, die im Osten spielt. Da wird sie die Geschichte von Marie.

Thomas Altmann, Mitteldeutsche Zeitung (Dessau), 14. März 2008