Interview

Reglindis Rauca, gebürtige Plauenerin, schrieb mit „Vuchelbeerbaamland“ ihren preisgekrönten Debütroman über die Kindheit in der DDR

Es ist das Land, wo die feuerroten Früchtchen wachsen, wo es keinen schöneren Baum zu verehren gibt und das kleine Mädchen wegen seiner feuerroten Haare als Hexenkind verspottet und verlacht wird. Marie wächst inmitten dieses Landstrichs auf, in Plauen, und mit einer augenzwinkernden Liebeserklärung an ihre Heimatstadt beginnt die Autorin Reglindis Rauca ihren Debütroman „Vuchelbeerbaamland“. Sie wurde 1967 in der Vogtlandstadt geboren, wuchs hier auf und erlebte mit hellwachen Sinnen die Widersprüchlichkeiten zwischen christlichem Elternhaus, sozialistischer Schule, kirchlichen Dogmen und ihrer Außenseiterrolle als Rothaarige. Die Stadt, in der sie aufwuchs, bleibt ihre Heimat nicht. Das Vuchelbeerbaamland geht verloren.

Reglindis Raucas Kindheit ist zum Stoff ihres Buches geworden, das Plauener Mädchen Marie bewegt sich in der realen Wirklichkeit der siebziger, achtziger Jahre wie in der literarischen Fantasie der Autorin. Die fünfzehnjährige Marie, an der Schwelle des Erwachsenseins, erlebt eine schwere Erschütterung ihres gerade erst entstehenden Bildes von Gott und der Welt, als der in Kanada lebende Großvater an die Bundesrepublik ausgeliefert wird. Er wurde als SS-Verbrecher identifiziert, der den Mord an 10.000 litauischen Juden persönlich veranlasste. Die Unvorstellbarkeit dieser Schuld und ihres Verschweigens stellt bis heute Fragen an Reglindis Rauca. Sie verließ Plauen, absolvierte in Dresden eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, studierte dann die Schauspielkunst und stand in verschiedenen Theatern auf der Bühne, seit 1992 in Düsseldorf. Sie schreibt zwar seit ihrer Kindheit, der Roman ist dennoch ihr erstes größeres Manuskript gewesen. Sie erhält für das „Vuchelbeerbaamland“ den Literatur-Förderpreis der Stadt Düsseldorf. Mit der Autorin sprach Reinhold Lindner.

Freie Presse: Sie beschreiben Plauen präzise und lassen von Anfang an keinen Zweifel an der Authentizität des Romanortes, den Sie als Mitte des Vuchelbeerbaamlands sehen. Was hat es auf sich mit diesem Bild, das nach Provinz aussieht?

Reglindis Rauca: Marie, meine Romanfigur, wird hier geboren, wächst hier auf, geht von hier weg. Kindheit, Schule, Elternhaus sind in Plauen. Die Johanniskirche, in deren Gemeinde der Vater eine große Rolle spielt, die Fabriken, die nahen Ausflugsorte – das ist die Umgebung Maries. Aber es ist nicht viel anders als in allen Orten der DDR. Plauen steht exemplarisch für eine beliebige deutsche Provinzstadt und für geistige Enge, Ignoranz und Anpassung – die Provinzialität ist also mehr eine „geistige“ als eine örtliche. Ich will allerdings niemanden pauschal verdammen, auch nicht die Plauener. Die Zwiespältigkeit zwischen Schule, Religiösität und Elternhaus – das alles wird für Marie beizeiten schwer erträglich. Hat sie wegen ihrer roten Haare von Anfang an ihren Außenseiterplatz bekommen, so wird sie durch ihre Diskutierfreudigkeit noch mehr ausgewiesen, sie stellt Fragen, sie will wissen und hinter die Dinge kommen. Sie trifft auch auf gute Lehrer und findet die sozialistische Schule nicht so schlecht, wie sie ihr Vater macht. Ja, und Außenseiter ist sie auch wegen der aktiven Zugehörigkeit zur Kirche, wegen ihrer altmodischen Klamotten und rattenkurzen Haare – Außenseiter, weil sie nun schon mal Außenseiter ist …

Freie Presse: Marie, das verspottete Kind mit den feuerroten Haaren im Land der verehrten scharlachroten Beeren – kann man das als autobiografische Erfahrung sehen?

Rauca: Vom Empfinden und vom Erleben her ist der Romanstoff weitgehend autobiografisch. Aber es sind auch etliche fiktionale Elemente im Roman enthalten, es ist Dichtung und Wahrheit, eine künstlerische Bearbeitung der Wirklichkeit – Schreiben ist ein künstlerisches Mittel, die Wirklichkeit zu reflektieren. Ich neige auch zu Ironie und Satire, Ironie ist ein wichtiges stilistisches Mittel in meinem Roman, das beginnt beim Titel, zieht sich fort über Lieder, Redensarten, Dialoge.

Freie Presse: Marie erlebt auf besondere Weise ihre Muttersprache, im wahrsten Sinn, es ist die Mutter, die im Roman Mundart spricht. Bestärken Sie damit das Authentische des Romans?

Rauca: Das Plauenerische ist Maries Muttersprache, ich habe die Mundart wie alle, die in Plauen aufwachsen, damals selbst so gesprochen. Im Buch habe ich ganz bewusst die Äußerungen in Mundart auf die Mutter beschränkt. Ja, es ist im Buch die Muttersprache. Mit allem, was die Begrenztheit des Denkens, Aversionen, Kleinlichkeit und auch rigide Bösartigkeit mancher ihrer Äußerungen beschreibt, ebenso aber auch die Fürsorge, die kompromisslose Behütung ihrer Kinder im Nest, das nicht verlassen werden darf. Es gibt keine Reisen, kein Ferienlager, keine Kur. Damit ist nichts gesagt über Provinzialismus, aber Denkweisen, Verhältnisse und Verhalten werden dadurch plastischer und auch lebendiger. Andererseits prägt die Landschaft mit ihrer Begrenztheit natürlich die Menschen. Noch dazu unter diesen Verhältnissen, da sie raus wollen und nicht können. Muttersprache ist Heimatsprache – die Sprache der Heimat, die sich auf diesem idyllischen, begrenzten Stückchen Erde artikuliert. In der sächsischen Muttersprache Plauener Spielart offenbart sich für mich die ganze Heimatverbundenheit, das Verwachsensein mit der Natur, Liebe zur Scholle, aber auch Biedersinn, Konservatismus, Ignoranz, Gehässigkeit und Rechthaberei, ängstliches Duckmäusertum, Streitsucht, Neid, aber auch warme Herzlichkeit, urwüchsige Bodenständigkeit und praktisches, lebenstüchtiges Denken und Tun. Vogtländer sind für mich wie große, alte Bäume, ein bisschen korrig, knarzig, schief durch Lebenswind und Wetter, aber durch nichts zu vertreiben und zu entwurzeln.

Freie Presse: Ist es ein Wagnis, heutzutage in der Literatur mit Mundart umzugehen und noch dazu den Buchtitel darauf festzulegen?

Rauca: Prinzipiell nicht, denke ich. Wenn Mundart als stilistisches Mittel eingesetzt wird, kann man damit Charaktere lebendiger gestalten. Brecht hatte seine Schauspieler auf der Probe z. B. in den ersten Wochen ihren Heimatdialekt sprechen lassen, um eine lebendigere Sprache und Gestus zu erhalten. Erst dann hat er sie auf Hochdeutsch umgestellt. Dann hatten die Schauspieler ihren Gestus aber schon weitgehend drauf. Ich würde z. B. keinen ganzen Roman im Dialekt schreiben, das wird schnell langweilig und liest sich auch schwierig, wenn man in der Mundart nicht „zu Hause“ ist. Dialekt muss eine Funktion haben, dann ist er ein klasse Mittel. Der Buchtitel war für mich schon ein Wagnis. Er ist eigentlich die Quintessenz des Buches – und klar, wenn man es gelesen hat. Aber er erschließt sich auch schnell, wenn man in den Roman hineinliest.

Freie Presse: Aber die Dimensionen der Welt brechen immer durch diese Grenzen, ja, in dieses umsorgte, streng behütete Nest mitten hinein: Der Großvater in Kanada, der Ur-Plauener, es ist jäh Schluss mit der Romantik des Vogelbeerbaums und mit der familiären Kleinteiligkeit. Sie bleiben bei Tatsachen?

Rauca: Ja, Maries Erschütterung kommt aus meiner Familie, ebenso, wie viele ihre Grunderfahrungen meine eigenen sind. Der Großvater und die Enthüllung seiner Verbrechen wie ihr Verschweigen durch den Vater, das ist bittere Wahrheit. Ich habe mich bewusst an die Tatsachenberichte gehalten, die der kanadische Publizist Sol Littman 1982 veröffentlichte. Inzwischen bin ich mit ihm befreundet und habe viele Protokolle der Anhörungen meines Großvaters in der Hand. Ich weiß bis heute nicht, wie man damit fertig werden kann, mit dem Verbrechen nicht und mit seinem Verschweigen nicht. Die deutschlandweiten Lesungen, die ich gerade mit meinem Buch habe, geben mir die wunderbare Möglichkeit, mit interessierten Menschen über dieses schwierige Thema zu sprechen – es ist ja unser aller Geschichte, die viele immer noch sehr bewegt und unsere Gegenwart nach wie vor beeinflusst. Es ergeben sich sehr ehrliche Gespräche, ich erhalte viele positive Rückmeldungen. Eine wichtige und gute Erfahrung für mich, ich kann anderen Menschen Mut machen, sich diesem Thema zu stellen, und schöpfe daraus selbst neue Kraft.

Freie Presse: Verraten Sie, wie es mit Marie weitergeht?

Rauca: Ja, ich werde weiter schreiben, und ich habe einen zweiten Roman vor, will die Geschichte verfolgen. Ob sie mit Marie weiter geht oder eine andere Figur an ihre Stelle tritt, weiß ich noch nicht. Mit geht eine Gesellschaftssatire im Kopf herum, die den Faden aufnimmt zur Zeit der Wende und danach.

Reinhold Lindner, Freie Presse, 16.10.2008