Reglindis Rauca, 1967 in Plauen geboren und aufgewachsen, hat 2008 mit „Vuchelbeerbaamland“ einen Roman geschrieben mit einer biografischen Ungeheuerlichkeit: der Großvater als Nazi-Massenmörder. Die Heldin, Marie, verlässt nach tiefen Verletzungen ihre Eltern in Plauen und deren heile Welt. Im neuen Roman „Fatzvogel“ wird Maries Leben weitererzählt.

„Marie springt auf und zieht im Vorsalon Stiefel und Parka an. Zerrt den Rucksack hervor, reißt das ‚Jesus lebt‘-Abzeichen ab. Wirft die Tür hinter sich zu. Über der Tanne hängt der Mond. Der Neuschnee knirscht unter ihren Füßen.“
Mit diesen knappen Sätzen endet Reglindis Raucas erster, sehr erfolgreicher und preisgekrönter Roman „Vuchelbeerbaamland“. Knirschender Neuschnee, das klingt nach Neuland, Neubeginn. Lässt unberührtes Weiß aufscheinen. Verlangt nach einer Fortsetzung. Diese liegt nun vor. Reglindis Rauca schreibt nach ihrem Erstling, 2008 erschienen, die Geschichte um Marie weiter.

Die junge Frau ist zwei Jahre älter geworden. Ihre EOS-Zeit in Plauen (Erweiterte Oberschule „Erich Weinert“; Klassenlehrer Herr Schönfelder) bleibt leider im Dunklen; jedenfalls hat sie dort ihr Abitur gemacht. Wollte eigentlich danach Gemeindehelferin werden. Doch sie wird ein Jahr zurückgestellt. Empfohlen wird ein Blick ins wirkliche Leben, „eine praktische Phase“ in der Diakonie. Marie entscheidet sich für den Dienst in einer geschlossenen Anstalt der Inneren Mission in Radeburg bei Dresden.

Heiner Müller: „Fress-und Fickzellen“
„Die Insassen der Anstalt werden rund um die Uhr gepflegt, gefüttert und bewacht.“ So wird der Mikrokosmos der Radeburger Anstalt beschrieben. Diese Welt im Kleinen kommt den Allmachtsfantasien der DDR-Oberen bedenklich nahe, steht auch für den Überwachungsstaat DDR (von dem wir heute wissen, dass er ob seiner technischen Möglichkeiten durchaus Grenzen hatte). Geweckt werden auch Erinnerungen an sozialpolitische Floskeln wie „sicher, trocken und warm“, mit denen das Wohnungsbauprogramm gepriesen wurde und die Innenstädte verfielen. In Reglindis Raucas Roman wird Heiner Müller zitiert, der Neubauwohnungen „Fress- und Fickzellen“ genannt haben soll. Wer von Ofenheizung, Trockenklo auf halber Treppe und fehlendem Bad zu Fernheizung und weißen Badkacheln wechseln konnte, war trotzdem froh.

Die Anstalt hat einen Chef, Schulze. Die Mitarbeiter duzen sich, nennen sich Bruder und Schwester und haben „vor Frömmigkeit triefende Augen“. Es gibt Ausreiseantragsteller, die Männer tragen meist Bärte. Heimliche Mitarbeiter der Staatsicherheit geben sich, oft vergeblich, alle Mühe. Die Insassen müssen Ausflüge anmelden und genehmigen lassen. Wer für immer geht, tut das „mit den Füßen zuerst“. Beherrschend sind Gestank von Kot und Urin, offene Wunden, die nie wieder heilen werden, allgegenwärtiger Irrsinn, ruhigstellende Tabletten. Hinzu kommen bösartige Verwandte, die ihren Pflichtbesuch absolvieren und das Personal demütigen. Das war damals nicht anders als heute.

Ein Kapitel Traumdeutung
Allgegenwärtig sind für Marie Vater und Mutter. Räumliche Trennung, Beharren auf einen eigenen Weg, bewusstes Zuwiderhandeln, all das verhindert nicht, dass Marie von ihren Eltern bis in den Traum hinein heimgesucht wird.

Nach der Lektüre von Alice Millers „Am Anfang war Erziehung“ begreift Marie ihre Kindheit und Jugend als Zeit der Dressur und Demütigung. Die Mutter wird zitiert: „Du bist ein Stück Mist, nichts weiter! Ein unnützes, unverschämtes Stück Dreck bist du, du bist nichts wert! Du kannst nichts, du wirst nie etwas können…“

Ein Alptraum beginnt verheißungsvoll und endet schweißüberströmt und bedeutungsschwanger. Die Mutter hat wunderbaren, dunkelblauen Seidenstoff für ein Kleid für Marie gekauft. Harmonie entsteht. Der Stoff wird Marie angesteckt. Auch der Vater erscheint, nennt Marie „eine schöne junge Frau“. Marie bittet die Mutter um Verständnis, möchte, dass Toleranz und Vernunft dem ewigen Streiten Platz mache. Doch die Mutter hört es nicht, ist dem Vater gefolgt. Marie ist allein im angesteckten Kleid. Bis sie begreift: Das Kleid ist an ihrer Haut festgesteckt. In drei Reihen, mit dünnen, starken Stahlnadeln, die Marie mühsam, eine nach der anderen, aus ihrem Körper zieht.

„Die kriegen mich nicht klein“
Vom Dichter Friedrich Hölderlin stammt nicht nur das Motto des Romans: „So komm! Dass wir das Offene schauen, dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.“ Der Roman macht es möglich, dass Marie ihrem Holder begegnet. An einem stillen Tag, oberhalb der Weinberge Radebeuls mit Blick auf die sich durch die Landschaft schlängelnde Elbe, trifft Marie Friedrich Hölderlin; leibhaftig, im schwarzen Jackett, schmal geschnittenen Tuchhosen und hellen, offenen Augen. Beide reden miteinander, Hölderlin reagiert mit Passagen aus „Der Jüngling an die klugen Rathgeber“. Dann wohl die Schlüsselstelle des Romans. Marie sagt: „Ich komme mir vor, als wäre ich ein Stück Eisen, und ein Schmied hält es ins Feuer und haut und haut. Ich bin ein störrisches Eisen. Ich beuge mich, aber ich verbeuge mich nicht. Ich biege mich, aber ich verbiege mich nicht. Ich krümme mich, aber ich breche nicht. Holder, die kriegen mich nicht klein!“

Diesem ihren selbstgesetzten Anspruch versucht Marie gerecht zu werden. Ob in den Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, ob als pflegerische Hilfskraft oder im Widerstand gegen Kaderleiterinnen oder Mitarbeiter der Wohnungsverwaltung: Marie gibt nicht klein bei.

Sie lernt Filip Urbansky kennen und lieben, einen Regisseur, einer, „der denkt nach und meint, was er sagt, er tut nicht so, er ist.“ Mit ihm bereitet sie sich auf das Studium an der Berliner Schauspielschule vor. Doch vor die Aufnahmeprüfung ist noch ein Test gesetzt. Marie besteht mit Bravour und dem Kommentar des Dozenten: „Sie haben alles …, alles, worauf wir Wert legen, was wir hier suchen, ist bei Ihnen da.“ Zur Aufnahmeprüfung singt sie, sich selbst auf dem Klavier begleitend, den Song der Seeräuberjenny, spielt eine Szene aus Thornton Wilders „Wir sind noch einmal davongekommen“ und die Figur der Nanny nach Sean O’Casey. Sie wir angenommen und, was selten vorkommt, alle Professoren sind vor ihr überzeugt. Marie ist auf dem besten Weg, ein studierter Fatzvogel zu werden.

Loblied auf alle Unangepassten
„Fatzvogel“. Das ist, nach dem eher sperrigen „Vuchelbeerbaamland“, ein gewöhnungsbedürftiger Buchtitel mit dem Vorzug, kurz zu sein und sich einzuprägen. Eine Internetsuche stößt an Grenzen. Auf die Eingabe „Fatzvogel“, folgt: „Meinten Sie ‚Fettvogel‘?“ Auch in Mundartbücher vogtländischer Autoren, von Sieglinde Röhn bis Martin Gläß, taucht der Fatzvogel nicht auf.

Das Wort „Fatzvogel“ gebrauchen im Roman zwei Personen. Zuerst Obermann, ein beleibter, selbstgefälliger Familienvater. Er ist ein Sohn des Altkommunisten Otto, Großmutter Gretls zweitem Mann. Maria erzählt ihm auf einer Familienfeier, dass sie Schauspielerin werden will. Das ist für den Spießer Obermann keine Arbeit, geschweige denn ein Studium, eher etwas für künftige Hungerleider. Er murmelt: „Fatzvogel, Spaßmacher. Die studiert Faxen.“

Später, Marie studiert längst „Faxen“ an der Schauspielschule, bricht sie am Ende eines vierstündigen Grundlagenseminars auf der Probebühne weinend zusammen. Alle sind gegangen. Marie träumt. In einer von der Autorin auf mehreren Seiten großartig geschilderten Vision sieht sich Marie plötzlich in einem Theater. Auf den Plüschsesseln sitzen Skelette von Kindern. Maries Mutter kommt; sie wirft die Skelette in ein Schwimmbecken. Von einem Mann, der knietief in Kot und Unrat watet, wird eine Kutsche hereingezogen, auf der Marlene Dietrich thront, ihre Beine sehen lässt und die Peitsche schwingt. Der Mann entpuppt sich als „Grandyddy“, Maries Großvater, Gretls erster Mann: der SS-Mann und Massenmörder. Die Kinder erheben Klage, sie wurden von Grandyddy ermordet. Der weist jeden Vorwurf ab. Wirft Marie vor, ihr hätten „die Roten ja gründlich ins Gehirn gespuckt“ und beschimpft sie als „Fatzvogel“.

Damit erweitert sich die Dimension des Wortes. Neben dem Spießerausdruck für Schauspieler wird Fatzvogel zum Synonym für alle Unangepassten, alle, die gegen den Strom schwimmen, sich nicht verbiegen und kleinkriegen lassen.

Das Stakkato des Präsens
Beschreibt der Anfang des Romans „Vuchelbeerbaamland“ in liebevoll-epischer Breite die Stadt Plauen und den „Tunnel“, der gar keiner ist, beginnt der Nachfolgeroman „Fatzvogel“ mit einem verbalen Stakkato: „Marie rennt, keucht und schleppt.“ Wieder wird als Erzählzeit das Präsens gewählt, vermittelt den Eindruck des Unmittelbaren. Zudem signalisieren Marias Fellmütze und Stiefel Winter und schlagen die Brücke zur der den Vorgängerroman abschließenden Kältemetapher.

Verabschiedet hat sich die Autorin auch von den im „Vuchelbeerbaamland“ verwendeten, meist nur aus einem Wort bestehenden Kapitelüberschriften. Geblieben ist die treffend formulierte Prosa, zupackend, fesselnd und mit der Gabe, eine Situation, eine Stimmung, eine Atmosphäre in wenigen Worten und knappen Sätzen plastisch werden zu lassen.

Dass einmal die Moldau mit Wien assoziiert wird, lässt sich korrigieren. Es kommt vor im Zusammenhang mit einem Buch, das die Studenten vorstellen sollen. Marie wählt „Gift im Blut“ aus, ein Kinderbuch über Ignaz Semmelweis, den Retter der Mütter. Ihr Vortrag, der den „Semmelweis-Reflex“ (eine wissenschaftliche Innovation hat eher eine Bestrafung zur Folge) thematisiert, kommt nicht gut an. Doch es entspricht Maries Ethos, sich gegen Ungerechtigkeit und Borniertheit zu wenden, vor allem wenn etablierte Paradigmen und Verhaltensmuster stärker sind.

Solcherart stilistische Höhenflüge kann wohl nur eine enthusiastische junge Frau nachvollziehen, der Heiner Müller einmal leibhaftig begegnet ist.

Fortsetzung folgt
Wir sind inzwischen im Jahr 1989. Im wirklichen Leben bricht die DDR langsam zusammen. Montagsdemonstrationen in Leipzig. Die Vorreiterrolle von Maries Heimatstadt wird leider nicht erwähnt. Erich Honecker, „dieser knochentrockene, alte Intrigant, tritt ab. Auch die Schauspielstudenten proben den Aufstand. Dann, in einer Novembernacht, die Nachricht: „Die Mauer ist offen!“; Marie bleibt im Bett. Ihre Differenzen mit Frau Professor Dora spitzen sich zu, sie wird gemobbt. Scheitert am Szenenstudium, eigentlich aber an Frau Dora, die an ihr ein Exempel statuiert, obwohl Marie als „Talent des Jahrzehnts“ an der Schule aufgenommen wurde.

Nicht alle sind gegen sie. Die Dozentin für Bewegung nimmt sie beiseite, macht ihr Mut: „Geben Sie den Beruf nicht auf. Machen Sie weiter, gehen Sie an ein kleines Theater … Sie gehören in diesen Beruf, Sie haben die Begabung.“

Das Buch endet in einer Szene mit Filip, der auch einen Rausschmiss an der Leipziger Schauspielschule hinter sich hat. Er sagt ihr, dass sie als Schauspiel-Elevin gute Chance habe, küsst ihre Tränen weg, „sie lachen“.

Die Leserin, der Leser, denen Marie in beiden Romanen sehr nahe gekommen ist, ist voller Erwartung, wie die Geschichte weitergeht. Wie in einem Gespräch, dass mdr Figaro unlängst mit der Autorin geführt hat, zu erfahren war, schreibt Frau Rauca bereits an einer Fortsetzung.

Vogtland-Anzeiger, Dr. Lutz Behrens, 11.12.2013