Vogtland – Plauen: „Vuchelbeerbaamland“
Auf der Suche nach Orientierung
Plauen – Es ist auch ein Schlüsselroman. Zumal bereits der dritte Satz mit der gar nicht verschlüsselten Ortsbezeichnung Plauen beginnt. Plauen inmitten des Vuchelbeerbaamlandes, ein hier zwar vom einschlägigen Liedgut her bekannter, ansonsten aber eher spröder Mundartausdruck, der sogar für den Titel dieses außerordentlichen, bemerkenswerten, großartigen Buches herhalten musste. Mit diesen preisenden Adjektiven ist das Pulver längst nicht verschossen, obwohl die Höhe der Bewertung nun vorgegeben ist, was bei dem Romandebüt einer Autorin aus Plauen schon zu beweisen wäre. Doch der Reihe nach. Zu entschlüsseln ist also geografisch Lokalpatriotisches, literarisch verbrämt: der Geradewohlplatz, auch „Tunnel“ genant, der Reichsadler auf dem Rathausturm, die (einstige) Frauenklinik in der Melanchthonstraße und dann „Plastiken aus der Werkstatt des Malers und Bildhauers Willi Fetthals“. Wer nun den Fettgehalt dieses Künstlernamens in sein Gegenteil verkehrt, der kommt weiter und wird fündig. Nach also einem furiosen Auftakt, der das Vogtland und Plauen beschreibt, erleben wir die Geburt der Heldin und einen Aufschrei der Hebamme: „Das hat ja rote Haare!“ Marie ist auf der Welt, „ein bisschen zart, dünnhäutig, aber sonst ganz in Ordnung, tipptopp“.
Risse in der Johanniskirche
Einer der ersten Ausflüge, auf dem wir das Mädchen begleiten, führt in die ehrwürdige Johanniskirche, den sakralen Bau, nach dem sich das Alter der Stadt bestimmt, „ein stummer Zeuge der Zeit“, stehend für Religion und Sicht auf die Welt. Mit ihrem Vater besucht Marie die Kirche. Die Kleine kriecht in schmale Gänge des mittelalterlichen Kirchenbaus und macht eine sie zutiefst verstörende Erfahrung: Geräusche schreien auf, Risse zeigen sich im Gebälk, die Glocke dröhnt. Selbst dieses mächtige, Jahrhunderte alte, steingewordene Symbol von Macht und Herrlichkeit ist, genauer besehen, brüchig, innen verrottet; muss, wie der Vater lakonisch bemerkt, „generalüberholt werden, der Laden“. Die Schule macht am Anfang Freude. Das Lernen, Lesen, Entdecken, Denken wird bis zum Schluss für das Mädchen wichtig und ein Vergnügen bleiben. Marie können wir uns vorstellen als eine zierliche Außenseiterin. Es mangelt ihr an der Brutalität und Gewöhnlichkeit ihrer Klassenkameradinnen, was nicht heißen soll, dass nicht auch sie manchmal gern dazu gehörte. Dann wird zum ersten Mal der Großvater erwähnt. Und wer weiß, dass damit das Generalthema des Buches ertönt, kann die Autorin nur beglückwünschen, wie es ihr gelingt, nicht ins billig Sensationslüsterne abzugleiten. Großvater, der Unbekannte, der so fern wie geheimnisvoll ist und Briefe aus Kanada schreibt. Doch Marie hat andere Sorgen. Sie erlebt das Trauma des Schwimmunterrichts, dressiert von einer Lehrerin: „Hopp, Mädels, … Mir nach!“, besucht das neoklassizistische Stadttheater, muss zum Spott der anderen das Dirndl aus dem Westpaket tragen und fühlt sich mitschuldig als ihr kleiner Bruder stirbt. Bruchstückartig wird Familiengeschichte offenbart. Da bleibt dem Mädchen einiges unklar. Fragen werden ausweichend beantwortet. Großvater war Polizist, hatte ein Auge auf die Dinge, sorgte für Ordnung – „Lauter gute Sachen“, wie die Mutter weiß. Doch in der Öffentlichkeit sprechen über ihren Großvater darf Marie nicht. Da wird das Kind gewarnt, da grenzt sich die Familie gegen die „Roten, das üble Pack“, ab.
Küche, Kinder, Kirche
Die Rollen in Maries Familie sind verteilt: Vater ist das unangefochtene Oberhaupt, hat immer recht, straft und sei es mit körperlicher Gewalt. Mutter kommt schlecht weg. Bleibt zuständig für Küche, Kinder, Kirche. Gibt auch biedere Lebenspläne vor: „Mann und Kinner. Das ist deine Aufgabe, dafür hat der liebe Gott dich geschaffen, dafür biste auf der Welt.“ Marie wird 1984 konfirmiert, es ist ihr auch gestattet, die „staatlichen, heidnischen Weihen pro forma mitzumachen“, wo jeder brav sagt: „Ja, das geloben wir.“ Für Freunde Plauens ein Fest sind die Schilderungen der längst zum Backshop degenerierten Post, des inzwischen als Vietnamesenladen genutzten Warenhauses (das vielleicht wie Phönix aus der Asche zum Landratsamt aufsteigt) oder des Café Beierlein, dessen leicht verschlissenen Charme auch der Rezensent sehr vermisst. Von der einfühlsamen Beschreibung der Plauener Buchhandlungen oder Teuschlers Musikalien- und Plattenladen ganz zu schweigen. Wir nehmen teil an Zusammenkünften der Jungen Gemeinde und immer wieder im Verlauf der Handlung kommt leitmotivisch die Rede auf den Großvater, der bei der Geheimen Polizei, wie hieß die noch?, gewesen sei: Gestapo. Der Roman ist in unterschiedliche Kapitel gegliedert, die mit Überschriften versehen sind. Da heißt es dann plötzlich: „Aus der Traum“. Was ist passiert? „Es ist was mit Grandyddy.“ Der Rias bringt es in den Nachrichten, die Leute tuscheln. Dann ist es heraus: „Kanada hat unseren Großvater ausgeliefert.“ Ihm, „KZ-Aufseher?, SS-Scherge?“, Marie weiß es nicht, soll in Frankfurt am Main der Prozess gemacht werden. Bis Marie dann im Radio eine Reportage über ihren Opa hört (die, wie es im Buch erklärt wird, der CBC TV-Reportage „The Helmut Rauca Case“ von Sol Littmann vom 4. November 1982 folgt, die man sich auch im Internet ansehen kann). So erfährt Marie dass ihr Großvater, ein SS-Hauptscharführer, verantwortlich ist für die Selektion und Ermordung von 9200 jüdischer Männer, Frauen und Kinder, am 28. Oktober 1941, in Kaunas, Litauen.
Der Fall ist erledigt
Maries Vater, der Sohn des Mörders, sagt, sie gehöre in eine Irrenhaus, als das Mädchen mit der Ungeheuerlichkeit nicht zurecht kommt, verzweifelt ist. Dann stirbt der Großvater plötzlich, im Gefängniskrankenhaus. „Die Akte wird geschlossen, der Fall ist erledigt.“ Marie ist 16, bald wird sie die 10. Klasse abschließen. Das Leben liegt vor ihr. Zum Neujahrstag wird im Familienkreis gefeiert, in Fotoalben geblättert. Da ist der Großvater wieder, als junger Mann, die doppelte Rune auf dem Kragenspiegel, mit Parteiadler, Totenkopf „und fixiert den Betrachter mit stählernem Blick“. Marie geht. Für immer? Wohin? Der Roman gibt darauf keine Antwort. Bemerkenswert an diesem literarischen Debüt ist die Sicherheit der Komposition und die souveräne Nutzung auch moderner künstlerischer Mittel. Da wird zwar in der Regel chronologisch erzählt, aber Rückblenden, Assoziationen, lyrische Einsprengsel oder auch der sichere Umgang mit der Syntax machen das Buch lesenswert und spannend. Zumal der Plauener Leser eine Fülle an Bezügen, Hinweisen auf Personen und zeitgeschichtliche Wertungen geboten bekommt.
Vogtland-Anzeiger, Dr. Lutz Behrens, 12. Juni 2008